Die wahre Geschichte der Chakren

Die wahre Geschichte der Chakren

Die sechs wichtigsten Dinge, die du noch nicht über die Chakren wusstest …

In den letzten hundert Jahren hat das Konzept der Chakren oder feinstofflichen Energiezentren im Körper, die westliche Vorstellungskraft mehr als jede andere Lehre aus der Yoga-Tradition gepackt. Wie bei den meisten anderen, aus Sanskrit-Quellen stammenden Vorstellungen, hat der Westen (abgesehen von einer Handvoll Wissenschaftler) kaum verstanden, was der Chakra-Begriff in seinem ursprünglichen Kontext bedeutet und wie man mit ihnen üben soll. Dieser Artikel versucht, diese Situation einigermaßen zu korrigieren. Wenn du nur wenig Zeit hast, kannst du die kontextuellen Kommentare überspringen und direkt zur Liste der sechs grundlegenden Fakten über die Chakren gehen, die moderne Yogis oft gar nicht kennen.

Zunächst einmal, wie definieren wir „Chakra“? In den tantrischen Traditionen, aus denen das Konzept abgeleitet ist, sind Chakren (Skt. Cakra) Fokussierungspunkte für Meditationen im menschlichen Körper, die als Strukturen von Energie dargestellt werden. Sie ähneln Scheiben oder Blumen, und zwar an den Stellen, an denen eine Reihe von Nāḍīs (Kanäle oder Meridiane) zusammenlaufen. Es sind begriffliche Strukturen, die jedoch phänomenologisch begründet sind, da sie tendenziell dort liegen, wo Menschen emotionale und/oder spirituelle Energie erfahren, und die vorgestellte Form die visionären Erfahrungen von Meditierenden widerspiegelt.

Ich habe oben gesagt, dass der Westen Chakren bisher nicht verstanden hat. Ich möchte klarstellen, dass mit „der Westen“ nicht nur die euroamerikanische Kultur gemeint ist, sondern auch die Aspekte der modernen indischen Kultur, die von der euroamerikanischen Kulturmatrix beeinflusst werden. Da es an diesem Punkt fast unmöglich ist, eine Form von Yoga in Indien zu finden, die nicht von euroamerikanischen Vorstellungen beeinflusst wird, schließe ich auch die meisten Lehren über Yoga in Indien ein, die heute in Indien in englischer Sprache existieren, wenn ich den Begriff „westlich“ verwende.

Okay, ich sage es ganz direkt: Im Großen und Ganzen versteht der westliche Yoga fast nichts von den Chakren, die für die ursprüngliche Tradition wichtig waren. Zum Beispiel, wenn du ein Buch wie Anodea Judiths berühmtes „Räder des Lebens“ oder dergleichen liest, ist es wichtig zu erkennen, dass du nicht ein Werk der Yoga-Philosophie liest, sondern des westlichen Okkultismus, das auf drei Hauptquellen basiert: 1. frühere Werke des westlichen Okkultismus, die Sanskrit-Begriffe ausgeliehen und angepasst haben, ohne sie wirklich zu verstehen (wie „Die Chakras“ von Theosophist C. W. Leadbeater, 1927); 2. John Woodroffe’s fehlerhafte Übersetzung aus dem Jahr 1918 eines Textes über die Chakren, der 1577 in Sanskrit geschrieben wurde (siehe dazu weiter unten); und 3. Bücher indischer Yoga-Gurus aus dem 20. Jahrhundert, die zumeist auf den Quellen 1. und 2. basieren. Bücher über Chakren, die auf einem soliden Verständnis der ursprünglichen Sanskrit-Quellen basieren, existieren bisher nur in der akademischen Welt.

„Aber ist das wichtig?“, fragen mich Yogis. „Ich habe so viel von Anodea Judiths Buch profitiert, nimm mir das nicht weg!“ Das will und werde ich nicht. Welchen Nutzen du auch immer erhalten hast, egal aus welcher Quelle – er ist real wenn du das so empfindest. Ich möchte dir nur zwei Dinge zu sagen: Zum einen, wenn moderne westliche Autoren über Chakren behaupten, dass sie alte Lehren präsentieren, täuschen sie dich – aber sie wissen nicht, dass sie es tun, weil sie die Gültigkeit ihrer eigenen Ausgangsmaterialien nicht beurteilen können, da sie kein Sanskrit lesen. Zum anderen, bin ich hier für diejenigen, die sich dafür interessieren, was yogische Begriffe in ihrem ursprünglichen Kontext bedeuten (weil ich ein Sanskrit-Kenner und ein Praktizierender bin, der die traditionellen Formen bevorzugt). Nur du kannst beurteilen, was für dich von Nutzen ist. Ich behaupte nicht, dass älter an sich besser ist. Ich versuche nicht zu unterstellen, dass der westliche Okkultismus keinen spirituellen Wert hat. Ich nähere mich nur der historischen Wahrheit in einfachen [[deutschen]] Worten, so gut ich kann. Also werde ich jetzt fortfahren mit: Die sechs grundlegenden Fakten über die Chakren, die moderne Yogis nicht kennen.


1. Es gibt nicht nur ein Chakrasystem in der ursprünglichen Tradition, es gibt viele.

So viele! Die Theorie des subtilen Körpers und seiner Energiezentren, genannt cakras (oder padmas = Lotusse), ādhāras, lakṣyas (Fokussierungspunkte), etc.), geht auf die Tradition des tantrischen Yoga zurück, der von 600-1300 n.u.Z. blühte und bis heute lebendig ist. Im vollentwickelten tantrischen Yoga (etwa dem Jahr 900) artikulierte jeder der vielen Zweige der Tradition ein anderes Chakra-System, und einige Zweige formulierten mehr als eines. Fünf-Chakra-Systeme, Sechs-Chakra-Systeme, sieben, neun, zehn, zwölf, zwölf, einundzwanzig und mehr Chakren werden unterrichtet, je nachdem, welchen Text und welche Linie du betrachtest. Das Sieben-Chakrasystem (oder technisch gesehen 6 + 1), das westliche Yogis kennen, ist nur eines von vielen, und es wurde um das 15. Jahrhundert herum dominant (s.u. Punkt Nr. 4).

Du denkst nun: „Aber welches System ist das richtige? Wie viele Chakren gibt es wirklich?“ Und das bringt uns zu unserem ersten großen Missverständnis. Die Chakren sind nicht wie Organe im physischen Körper; sie sind keine festen Fakten, die wir studieren können, wie Ärzte die Nervenknoten (mit denen die Chakren im 19. Jahrhundert verwechselt wurden). Der Energiekörper (sūkshma-sharīra) ist eine außerordentlich fließende Realität, so wie wir es von allem Nicht-Physischen und Übersinnlichen erwarten sollten. Der Energiekörper kann sich erfahrungsgemäß mit einer beliebigen Anzahl von Energiezentren präsentieren, abhängig von der Person und der yogischen Praxis, die sie ausführen.

Allerdings gibt es einige wenige Zentren, die in allen Systemen zu finden sind: speziell im Unterbauch oder Sexualzentrum, im Herzen und in oder in der Nähe des Scheitelpunkts, da dies drei Orte im Körper sind, an denen Menschen auf der ganzen Welt sowohl emotionale als auch spirituelle Phänomene erleben. Aber abgesehen von diesen drei finden wir in der Original-Literatur eine große Vielfalt an Chakra-Systemen. Das eine ist nicht „richtiger“ als ein anderes, außer in Bezug auf eine bestimmte Praxis. Wenn du zum Beispiel eine Fünf-Elemente-Übung machst, benutzt du ein Fünf-Chakra-System (s.u. Punkt Nr. 6). Wenn du die Energie von sechs verschiedenen Gottheiten verinnerlichst, benutzt du ein Sechs-Chakra-System. Puuuh, nicht wahr? Aber dieses entscheidende Stück Information hat den westlichen Yoga noch nicht erreicht.

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2. Die Chakra-Systeme sind vorschreibend, nicht beschreibend.

Das könnte der wichtigste Punkt sein. Englische [[Westliche]] Quellen neigen dazu, das Chakra-System als existenzielle Tatsache darzustellen, indem sie beschreibende Sprache verwenden (wie „das mūlādhāra-Chakra befindet sich an der Basis der Wirbelsäule und ist rot“ und so weiter). Aber in den meisten der ursprünglichen Sanskrit-Quellen wird uns nicht gelehrt wie die Dinge sind, sondern wir erhalten eine spezifische yogische Praxis: Wir sollen ein subtiles Objekt aus farbigem Licht, das wie ein Lotus oder ein Spinnrad geformt ist, an einem bestimmten Punkt im Körper visualisieren und dann mantrische Silben darin für einen bestimmten Zweck aktivieren. Wenn du dies verstehst, ergibt Punkt Nr. 1 weiter oben mehr Sinn. Die Texte sind vorschreibend – sie sagen, was man tun muss, um ein bestimmtes Ziel mit mystischen Mitteln zu erreichen. Wenn das wörtliche Sanskrit in seiner elliptischen/umschreibendenForm den „vierblütigen roten Lotus an der Basis des Körpers“ beschreibt, sollen wir verstehen: „Der Yogī sollte einen vierblütigen Lotus visualisieren …“. Siehe Punkt Nr. 5 unten für weitere Informationen dazu.

3. Die mit den Chakren verbundenen psychologischen Zustände sind völlig modern und westlich.

Auf zahlreichen Websites und in unzähligen Büchern lesen wir, dass das mūlādhāra-Chakra mit Überleben und Sicherheit verbunden ist, dass das maṇipūra-Chakra mit Willenskraft und Selbstwertgefühl verbunden ist, und so weiter. Der gebildete Yogi sollte wissen, dass alle Assoziationen der Chakren mit psychologischen Zuständen eine moderne westliche Innovation sind, die mit C.G. Jung begann. Vielleicht repräsentieren solche Assoziationen für manche Menschen Erfahrungswirklichkeiten (wenn auch meist nicht ohne Vorkenntnisse), aber wir finden sie sicherlich nicht in den Sanskrit-Quellen. Es gibt nur eine Ausnahme, die mir bekannt ist, und das ist das 10-Chakra-System für Yogi-Musiker, über das ich einen Blogbeitrag geschrieben habe. Aber in diesem System des 13. Jahrhunderts steht nicht, dass jedes Chakra mit einem bestimmten Gefühl oder einem bestimmten psychologischen Zustand verbunden sei; vielmehr wird jedes Blütenblatt eines jeden Lotus-Chakras mit einem bestimmten Gefühl oder einem bestimmten psychologischen Zustand verbunden. Es scheint kein Muster zu geben, mit dem wir ein Kennzeichen für ein Chakra als Ganzes schaffen könnten.

Aber das ist noch nicht alles. Fast alle der vielen Assoziationen, die in Anodea Judiths „Räder des Lebens“ zu finden sind, haben keine Grundlage in den indischen Quellen. Jedes Chakra, sagt uns Judith, sei mit einer bestimmten Körperdrüse, bestimmten körperlichen Fehlfunktionen, bestimmten Lebensmitteln, einem bestimmten Metall, einem Mineral, einer Kraut, einem Planeten, einem Yogaweg, einer Farbe des Tarots, einer Sephira der jüdischen Mystik und einem Erzengel des Christentums verbunden. Keine dieser Assoziationen stammt aus den ursprünglichen Quellen! Judith oder ihre Lehrer schufen sie auf der Grundlage wahrgenommener Ähnlichkeiten. Das gilt auch für die ätherischen Öle und Kristalle, von denen andere Bücher und Websiten behaupten, sie würden dem jeweiligen Chakra entsprechen. (Ich möchte anmerken, dass Judith einige Informationen aus einer originalen Sanskrit-Quelle vorstellt  [das Ṣaṭ-cakra-nirūpaṇa, s.u.] unter dem Namen: ‚Lotossymbole‘ für jedes Chakra.)

Dies heißt nicht, dass es dir nicht besser gehen kann, wenn du dir bei Problemen mit dem Selbstwertgefühl eine bestimmte Art von Kristall auf den Bauch legst und dir vorstellst, es reinigt dein maṇipūra-Chakra. Vielleicht wird es das. Aber diese Praxis ist sicherlich nicht traditionell und sie wurde nicht über Generationen hinweg  getestet (was der eigentliche Sinn einer Tradition ist). Sicherlich gibt es mehr zwischen Himmel und Erde, als mein rationalistisches Gehirn zu träumen vermag. Meiner Meinung nach sollten die Menschen aber wissen, wenn der Stammbaum einer Praxis einige Jahrzehnte beträgt, und nicht Jahrhunderte. Wenn eine Praxis einen Wert hat, dann muss man ihre Herkunft nicht verfälschen, oder?

4. Das heute populäre Sieben-Chakra-System stammt nicht aus einer alten Schrift, sondern aus einer 1577 verfassten Abhandlung.

Das Chakra-System dem westliche Yogis folgen, wurde in einem Sanskrit-Text von einem Mann namens Pūrṇānanda Yati gefunden. Er stellte seinen Text (das Ṣaṭ-Chakra-nirūpaṇa oder „Erklärung der sechs Chakren“, das eigentlich Kapitel sechs eines größeren Werks ist) im Jahr 1577 fertig, und dieser Text wurde 1918 ins Englische übersetzt.

In einer früheren Version dieses Beitrags bezeichnete ich dieses Sieben-Chakra-System als „spät und etwas untypisch“. Aber nach ein paar Tagen wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte – eine einfachere Version desselben Sieben-Chakra-Systems findet sich in einem post-scripturalen Text aus dem 13. Jahrhundert namens Śāradā-tilaka, auch wenn dieser Text die Existenz mehrerer Chakra-Systeme (wie Systeme mit 12 oder 16 Chakren) eindeutig anerkennt. Eine umfangreichere Version desselben Systems finden wir auch im 14./15. Jahrhundert in der Śiva-samhitā. Die meisten Yogis (sowohl Inder als auch Westler) kennen das Sieben-Chakra-System jedoch durch das Werk von Pūrṇānanda aus dem 16. Jahrhundert, oder besser gesagt, durch die etwas zusammenhanglose und verwirrende Übersetzung von John Woodroffe aus dem Jahre 1918. Dennoch ist es wahr, dass dieses Sieben-Chakra-System seit vier oder fünf Jahrhunderten dominiert. Aber es ist auch wahr, dass das verwestlichte Sieben-Chakra-System, das du kennst, auf der Interpretation einer fehlerhaften Übersetzung einer nicht-scripturalen Quelle durch Okkultisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts basiert. Dies entkräftet sie keineswegs, sondern problematisiert lediglich ihre  [angebliche] Überlegenheit.

Beachte bitte, dass der tantrische Buddhismus (z.B. in Tibet) oft ältere Formen bewahrt hat, und in der Tat ist das Fünf-Chakra-System in dieser Tradition dominant (ebenso wie das grundlegendere Drei-Bindu-System). Für ein typisches Fünf-Chakra-System, wie es im klassischen Tantra zu finden ist, siehe Seite 318 in meinem Buch „Licht auf Tantra“.

5. Der Hauptzweck eines Chakra-Systems ist es, als Vorlage für nyāsa zu dienen – die Installation von Mantras und Gottheiten.

Für die ursprünglichen Autoren war der Hauptzweck eines jeden Chakra-Systems die Funktion als Vorlage für nyāsa, d.h. Mantras und Gottheits-Energien an bestimmten Stellen des subtilen Körpers einzurichten. Obwohl Millionen von Menschen heute von den Chakren fasziniert sind, verwendet fast niemand sie für ihren eigentlichen Zweck. Das ist in Ordnung. Nochmals, ich bin nicht hier, um irgend etwas schlecht zu machen, sondern dazu, interessierte Menschen zu informieren.

Die herausragendsten Merkmale der Chakrasysteme in den ursprünglichen Quellen sind diese drei: 1. dass die mystischen Klänge des Sanskrit-Alphabets über die „Blütenblätter“ aller Chakren im System verteilt sind, 2. dass jedes Chakra einem bestimmten großen Element (Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum) zugeordnet ist, und 3. dass jedes Chakra einer bestimmten hinduistischen Gottheit oder Gottheiten zugeordnet ist. Denn, wie gesagt, ist das Chakra-System in erster Linie eine Vorlage für nyāsa. In nyāsa (lit., ‚platzieren‘) visualisierst du eine bestimmte mantrische Silbe an einer bestimmten Stelle in einem bestimmten Chakra in deinem Energiekörper, während du dessen Klang leise intonierst.

Offensichtlich ist diese Praxis in einen kulturspezifischen Kontext eingebettet, in dem die Klänge der Sanskrit-Sprache als einzigartig kraftvolle Schwingungen angesehen werden. Diese können den eigentlichen Teil einer mystischen Praxis bilden und so spirituelle Befreiung oder weltlichen Nutzen durch magische Mittel bewirken. Das Bild und die Energie einer bestimmten Gottheit in ein bestimmtes Chakra einzubringen ist auch kulturspezifisch; aber wenn westliche Yogis verstehen, wofür diese Gottheiten stehen, könnte die Praxis möglicherweise auch für sie von Bedeutung sein. Auch wenn sie für jene wahrscheinlich nie so bedeutungsvoll sein werden wie für jemanden, der mit diesen Gottheiten als beispielhafte Ikonen aufgewachsen ist, die in ihrem Unterbewusstsein verhaftet sind und von dort aus auftauchen.

Die sogenannten Ursachen-Gottheiten (karana-devatās) finden sich weitgehend in jedem Chakra-System. Diese Gottheiten bilden eine feste Abfolge: vom untersten bis zum höchsten Chakra sind sie Ganesh, Brahmā, Vishnu, Rudra, Īśvara, Sadāśiva und Bhairava, wobei die erste und letzte von ihnen je nach Anzahl der Chakren oft nicht erscheint. Die letzte Gottheit in der Liste der Ursachen-Gottheiten ist nie die ultimative Gottheit des gegebenen Systems, denn diese Gottheit (wer auch immer es ist) thront im sahasrāra oder tausendblütigen Lotus auf der Krone des Kopfes – was technisch gesehen kein Chakra ist, da Chakren per Definition von Kuṇḍalinī in ihrem Auf- oder Abstieg durchbohrt werden, während das sahasrāra ihr endgültiges Ziel und ihre Heimat ist. Daher ist Bhairava (die esoterischste Form von Shiva) nur dann in der Liste der Ursachen-Gottheiten enthalten, wenn er von der Göttin transzendiert wird, die in vielen dieser Systeme die ultimative Gottheit ist.

6. Die Saat-Mantras, von denen du denkst, dass sie zu den Chakren gehören, passen tatsächlich zu den Elementen, die gerade in diesen Chakren eingerichtet sind.

Das ist einfacher, als es klingt. Vielleicht wurde dir gesagt, dass das Wurzel-Mantra (bīja) des mūlādhāra-Chakras „LAM“ ist. Nun, das ist es nicht. Nicht in einer einzigen Sanskrit-Quelle, noch nicht einmal in Pūrṇānandas etwas verstümmelter synkretistischen Darstellung. Und das Mantra von svādhiṣṭhāna-Chakra ist nicht „VAM“. Moment mal, wie bitte?

Es ist ganz einfach: „LAM“ (klingt wie „lang“) ist das Wurzelmantra des Erdelements, das in den meisten Chakra-Visualisierungspraktiken in mūlādhāra installiert ist. „VAM“ ist das Wurzelmantra des Wasserelements, das in svādhiṣṭhāna installiert ist (zumindest in dem dir bekannten Sieben-Chakren-System). Und so weiter: „RAM“ ist die Silbe für Feuer, „YAM“ für Wind und „HAM“ für Raum. All diese bījas reimen sich auf „lang“; obwohl ich anmerken möchte, dass im esoterischen tantrischen Yoga die Elemente-bījas verschiedene Vokallaute haben, die als weitaus mächtiger angesehen werden.)

Der Hauptpunkt ist also der, dass die grundlegenden Mantras, die mit den ersten fünf Chakren verbunden sind, nicht zu diesen Chakren selbst gehören, sondern zu den fünf darin installierten Elementen. Dies ist wichtig zu wissen, wenn du jemals eines dieser Elemente an einem anderen Ort installieren möchtest. „Wie bitte? Das kann ich tun?“ Auf jeden Fall! In der Tat finden wir die Elemente in verschiedenen Tantrik-Linien an sehr unterschiedlichen Orten. Zum Beispiel installierten die Saiddhāntika das Element Erde im Herzchakra. Was könnte deiner Meinung nach ein Effekt auf deine Beziehungen sein, wenn du immer das Windelement  im Herzzentrum installierst? Bedenke, „YAM“ ist das Mantra von Luft/Wind, nicht von anāhata, dessen innewohnendes Mantra ist „OM“. Vielleicht möchtest du also irgendwann einmal Erde im Herzen installieren, denn Erdung ist gut für dein Herz. In diesem Fall ist es doch praktisch zu wissen, dass „LAM“ das Mantra des Erdelements ist, und nicht per se dem mūlādhāra-Chakra zugeordnet werden muss.

Darüber hinaus gehören auch die meisten geometrischen Figuren, die heute mit den Chakren verbunden genannt werden, in Wirklichkeit zu den Elementen. Die Erde wird traditionell durch ein (gelbes) Quadrat, Wasser durch einen (silbrigen) Halbmond, Feuer durch ein nach unten gerichtetes (rotes) Dreieck, Wind durch ein Hexagramm oder einen sechszackigen Stern, und Raum durch einen Kreis dargestellt. Wenn du also die Figuren siehst, die in den Illustrationen der Chakren eingeschrieben sind, weißt du jetzt, dass es sich tatsächlich um Darstellungen der jeweiligen Elemente handelt, nicht um eine Geometrie, die dem Chakra selbst innewohnt.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Sogar eine Sanskrit-Quelle kann fehlgeleitet sein. So sind beispielsweise im Text von Pūrṇānanda aus dem 16. Jahrhundert, der die Grundlage für das populäre moderne Chakra-System bildet, die fünf Elemente in den ersten fünf Chakren eines Sieben-Chakrasystems angeordnet. Aber das funktioniert nicht wirklich, denn in allen klassischen Systemen ist das Raumelement an der Kopfkrone installiert, denn dort erlebt der Yogī eine weitreichende Öffnung in unendliche Weiten. Der Raum ist das Element, das in das Unendliche übergeht, also muss er sich an oder in der Nähe der Krone befinden. Ich würde spekulieren, dass Pūrṇānanda den Raum am Hals-Chakra platzierte, weil er in einer Zeit lebte, in der die empfangene Tradition ohne kritische Reflexion zunehmend dogmatisch befolgt wurde (ein Trend, der sich leider fortgesetzt hat). Seine Tradition war eine Kaula-Tradition, in der die klassischen Ursachen-Gottheiten nach unten geschoben wurden, um Platz für spätere, höhere Gottheiten (insbesondere Bhairava und die Göttin) zu schaffen, und die Elemente kritiklos mit den Gottheiten und Chakren verschmolzen wurden, mit denen sie zuvor verbunden waren. Es ist allerdings nicht offensichtlich dass Pūrṇānanda sich auf Kaula-Quellen stützte, denn anstatt dass die Göttin auf sahasrāra thront, wie wir es in einem Kaula-Sieben-Chakra-System erwarten würden, finden wir dort Paramaśiva, möglicherweise durch den Einfluss von Vedānta.

Wir haben die Oberfläche dieses Themas kaum angekratzt. Nein, ich mache keine Witze. Es ist wirklich komplex wenn man wissenschaftliche Literatur betrachtet, wie z.B. die Arbeiten von Dory Heilijgers-Seelen oder von Gudrun Bühnemann. Es braucht ungewöhnliche Geduld und Konzentration, um ein solches Werk überhaupt zu lesen, geschweige denn zu produzieren. Nun, ich hoffe, das Ergebnis dieses Beitrags wird etwas mehr Demut sein. Ein geringerer Anspruch auf Autorität, wenn es um wirklich esoterische Themen geht. Ich bin wahrlich demütig wenn ich die Komplexität der ursprünglichen Quellen sehe, und das mit vierzehn* Jahren Sanskrit auf dem Rücken (*der Original-Artikel stammt von 2016).

Dies alles ist noch weitgehend Neuland. Wenn es also um die Chakren geht, behaupte nicht, dass du dich damit auskennst. Sag deinen Yogaschülern, dass jedes Buch über die Chakren nur ein mögliches Modell darstellt. Praktisch nichts, was in westlichen Sprachen geschrieben ist, ist für Yoga-Praktizierende wirklich maßgeblich. Warum also nicht vorsichtig mit den Überzeugungen umgehen, die du über Yoga erworben hast, gerade wenn du ständig dazu lernst? Es ist zugegebenermaßen noch nicht ganz klar, dass wir diese alten Yogapraktiken wirklich verstehen. Anstatt zu versuchen, eine Autorität für eine über-vereinfachte Version davon zu sein, kannst du dich und deine Schüler einladen, klarer, ehrlicher, genauer und unvoreingenommener auf ihre eigene innere Erfahrung zu schauen.

Schließlich ist auch alles, was je ein Yogameister erlebt hat, in dir.

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PS: Dieser Beitrag erhält eine größere Verbreitung als ich (Hareesh) es gewohnt bin, und einige Leute, die mich nicht kennen, interpretieren meinen leicht schrägen Ton als Arroganz oder Sarkasmus. Tatsächlich bin ich im Grunde genommen ein echter Softie. Bitte lies meine Biografie, damit du meine Qualifikationen beurteilen kannst, um die Aussagen zu machen, die ich mache.


Original von: © Christopher Hareesh Wallis, Feb 5, 2016 · Englischer Originalartikel hier!

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 03.2019 von: Cornelius Woelke, Lektorat: Brigitte Heinz, Marion I.

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Grafikerin Web & Print, Yogalehrerin YA